Vorstellungswelten

Dienstag, 23. Mai 2006

Schatten

Jetzt und immer wieder stelle ich fest, wie präsent die Trauer ist. Sie folgt mir wie ein vertrauter Gefährte. Ein Schatten, der mir folgt, jedoch nicht zuückhaltend hinter mir steht, sondern sich zwischen mich und mein Erleben stellt. Er schiebt sich zwischen mich und die Sonne, eben gerade dann, wenn es hell ist um mich und ich mich am Leben, an seinen schönen Seiten wärme. Ich neide mir selbst die nun dreissig Jahre, die ich länger lebe als mein Kind. Dennoch genieße ich mehr und intensiver.
An manchen Tagen kann ich sachlich berichten. Auf die immer gleiche Frage: „Wie wird man damit fertig?“ kann ich abwägend antworten, „Gar nicht!“ oder „Ich weiss es nicht.“ Oder ich kann einen Erklärungsversuch in wenigen Sätzen wagen, der hier jetzt etliche Seiten einnimmt.
Es ist die Reaktion meines Gegenübers, die mir dann die tränenlose Sachlichkeit entreißt oder auch nicht. Meine Meinung zu diesem Phänomen ist indifferent. Manchmal bin ich dankbar weinen oder auch trösten zu dürfen. An anderen Tagen ertrage ich die Fürsorglichkeit nicht, die mit Hilflosigkeit abwechselt. Ich will dann nicht in den schlichten Schmerz zurück, den ich an manchen Tagen glaube, hinter mir gelassen zu haben. Man soll mir meine Illusionen lassen.
Im Allgemeinen versucht man nicht mehr, mich mit weitschweifigen Erklärungen, weltanschaulichen Referaten oder Redensarten zu trösten. Das ist gut, denn es gibt keinen Trost. Der gut gemeinte Versuch ist nicht weniger als eine Anmaßung; ein Vorwurf, den ich jedoch nie fomuliere. Eine Umarmung genügt vollkommen, wenn ich erkennen lasse, dass ich sie zulasse.

Donnerstag, 2. Juni 2005

Tod

Majs Mutter geht an dem Priester vorbei. Sie flieht. Sie geht zu ihrem Kind, das bleich und blaulippig, langsam auskühlend in dem Krankenhausbett liegt. Mit einem Laken zugedeckt, keine warme Decke. Sie zieht das Tuch über ihre Schulter, damit man die Einstiche nicht sieht. Die Einstiche, die entstanden bei dem Versuch ihr das Leben zu erhalten.
Kein Wunder, dass sie so kalt ist, denkt sie. Die Decke ist viel zu dünn. Sie nimmt die Hand des Kindes. Will sie wärmen.
Majs großer Bruder ist da. Carl ist da. Sie sind da. Mehr nicht. Die Zeit zieht sich zu Momenten zusammen. Der Schock ist so groß, dass sie alle nur kummerblaß und bewegungslos existieren und nicht mehr handlungsfähig sind. Nicht über das unmittelbare sitzen, stehen, schauen und schweigen hinaus.
Majs Vater kommt. Er schaut Majs Mutter an mit einem grenzenlosen Blick, der über alles Verstehen hinaus geht. Er beugt sich zu dem Kind hinunter, nimmt ihr Gesicht mit beiden Händen, zärtlich. „Ach, was ist denn nur mit dir, mein Schätzchen...“
Die Tür geht auf. Der Priester hat noch nicht aufgegeben.
Erst das konsequente Nein aller Anwesenden vertreibt den bösen Geist einstweilen.
Und sie verharren weiter in Handlungsunfähigkeit. Jeder für sich und Gott gegen alle.


Einschub: Die Ärzte nennen es Zwischenleben. Der Mensch ist (hirn-) tot, aber seine Zellen leben weiter, Minuten und Stunden, je nachdem, wie lange sie ohne den lebenswichtigen Sauerstoff auskommen können. Am empfindlichsten sind die Zellen des Gehirns. Sie sterben zuerst (8-10 Minuten), dann das Herz (15-30 Minuten), die Leber (30-35 Minuten), die Lunge lebt noch knapp eine Stunde und die Niere bis zu zwei.
Über 8 Stunden bleiben die Muskeln am Leben... An der Haut lassen sich bald erste Veränderungen erkennen. Unter der Haut wird das Netz der Venen sichtbar. Schon kurz nach dem Tod zeigen sich die bläulichen Leichenflecken, die entstehen, wenn das Blut im Körper, der Schwerkraft folgend, absinkt. Trotz dieser Veränderungen können die Schweißdrüsen der Haut aber noch über 30 Stunden arbeiten.... Nach 2 Stunden werden Muskeln unbeweglich. Ihre Energiespeicher werden langsam aufgebraucht und ohne Sauerstoff können sie nicht neu aufgefüllt werden. Die Muskelfasern verhaken sich, die Totenstarre setzt ein. Sie hält bis zu 2 Tagen an und löst sich dann wieder. Warum ist noch ungeklärt. Langsam erkaltet der Körper, je Stunde um ungefähr ein Grad. Je nach Umgebung können manchmal Tage vergehen, bis der Körper wirklich tot ist. (Quelle Qaurks&Co. Text: Martin Müller)

Bei der Suche nach Fakten über den Zustand in dem Majs Körper war, nachdem sie starb, findet die Ich-Erzählerin einen Link zu einer „Lebensuhr“ im Netz. Auf die Aufforderung des Formulars „enter your information“ gibt sie zunächst Majs Daten ein. Geburtsdatum, weiblich, ja, sie hat geraucht, nein sie war nicht übergewichtig. Die „Lebensuhr“ errechnet daraufhin den 24. Dezember 2047 als Todeszeitpunkt. Maj wäre also dieser zweifelhaften Prognose zufolge 64 Jahre alt geworden und an einem Weihnachtsabend gestorben. Die Seite verfügt ebenfalls über einen Sekundenrechner, der in diesem Fall eine Milliarde dreihundertdreiundvierzig Millionen, neunhundertundfünfzigtausendneuhundertvier Sekunden anzeigt und der kontinuierlich rückwärts läuft.
Majs Lebensuhr steht allerdings tatsächlich auf Null. Der Tod ist Stillstand.
Die Ich-Erzählerin gibt ihre eigenen Daten ein. Der Rechner offenbart ihr, dass sie am 11. Dezember 2052 sterben wird. Sie hätte also ihr Kind dennoch überlebt. Im gesegneten Alter von 94 Jahren würde ihre Trauer nicht geringer sein. Vorausgesetzt sie ist noch bei Verstand.
Carl, der doch auch jünger ist als sie, wird, glaubt man der Rechnerprognose, schon im April 2022 sterben. Sie wird also zu diesem Zeitpunkt die meisten Freunde verloren haben und nun auch noch das Kind.

Mittwoch, 18. Mai 2005

Dämon!

Da war dieser Priester. Ein katholisches Sterbehaus hat einen katholischen Priester vom Dienst, der durch die Gänge streicht, auf der Suche nach Seelenbeute.
Er ist klein, kleiner noch als Majs Mutter und verkleinert sich selbst in schamloser Erniedrigung um eine weitere Kopflänge indem er sich beugt. Den Kopf dabei schräg haltend und nach oben gewandt schaut er sie an, formt den Mund zu einem Gestus, der Mitleid ausdrücken soll. Er macht ihn spitz-rund und sie ekelt sich vor diesem Ausdruck des Saugens. Er saugt an ihrem Leid und sie verbirgt es so gut sie kann.
„Ihnen ist ein schweres Leid widerfahren!“ beginnt er in einem priesterlichen Singsang. Einem Säugling ähnlich, der durch sein Schreien den Milchfluß animiert, benutzt dieser die Sprache, den Tonfall, um das was ihn am Leben erhält zum Fließen zu bringen, um es aufzuschlürfen, das ganz frische und noch unbezwungene Leid, ganz unreflektiert, wie köstlich für so einen wie ihn.
„Darf ich ihnen..“ seine Kopfhaltung wird noch schräger und sein Gesichtsausdruck verschwimmt ins Bekümmerte, „... mein tiefempfundenes Beileid aussprechen.“ Er grabscht nach ihrer Hand. „Schämen sie sich ihrer Tränen nicht.“
Sie weint nicht. Sie starrt in dieses bekümmerte Gesicht, dessen Kümmernis, das spürt sie genau, jetzt lediglich davon bestimmt wird, dass sie sich ihm verweigert. Dass sie ihm ihr Leid verweigert. Als nächstes wird er etwas von Gott sagen. Er wird sich als Schnittstelle zu Gottes unerfindlichem Ratschluß anpreisen und Erklärungen liefern wollen, die sie unweigerlich in zorniges Wüten gegen das und alles stürzen werden. Die sie w o l l e n lassen werden. Einen Willen wieder spüren, der sinnvollerweise abgestellt ist, jetzt gerade. Sie zieht ihre Hand zurück. Dreht sich um, geht ziellos in eine andere Richtung. Nur fort von dieser Mißgeburt, von dieser Pervertierung aller mitmenschlichen Gesten. Weiche von mir, Dämon!

Montag, 16. Mai 2005

Wie?

„Wie sie wohl ist, wenn sie irgendwo ist?“ fragt P.
„Ich weiss es nicht,“ sagt S., „sie hat keine Augen mehr, nicht?“
„Ja, das wird wohl so sein.“
Sie schweigen einige Minuten lang und vermeiden den Gedanken daran, was mit ihren Augen geschehen ist, indem sie sich wieder auf die Vorstellung des WIE konzentrieren. S. räuspert sich, um die Festigkeit der Stimme wieder zu gewinnen.
„Sie kann nur jenseits des Lichtes sein oder mittendrin. W e n n wir nicht an Geister glauben...“
„Wir glauben nicht an Geister,“ bekräftigt P. entschieden. „Sie ist in ihrem Leuchten, das ist das einzige, von dem wir wissen, dass sie es mitgenommen hat.“

Einschub: In einer ersten Definition kann die Biophotonik als die Wechselwirkung von Licht (Photonen) mit lebenden Organismen und organischem Material (Bio) beschrieben werden. Eine genauere Definition bezeichnet die Biophotonik als Summe jener optischen Technologien, die geeignet sind, eine Mikrostrukturierung struktureller, funktioneller, mechanischer, biologischer und chemischer Eigenschaften biologischer Materialien und Systeme vorzunehmen.

„Licht hat keine Masse.“ sagt S.
„Das ist gut.“ P. seufzt, „dann ist sie leicht, ganz leicht.“
„Ich glaube,“ S. nimmt einen Schluck Apfelschorle. „dass man nicht sehen kann, wenn man Licht ist. Allenfalls Leuchtintensität kann man dann wahrnehmen, irgendwie, davon angelockt werden, hin und her gezogen, so stelle ich mir das vor.“
Sie erinnern sich, dass U. erzählt hat, dass auch in den Sterbezimmern, die sie kennt, viele Gestalten das Zimmer bevölkerten. Also doch Geister?
„Nein, eine Schnittstelle!“ P. ist sich sicher. „Man kann hinüberschauen, wechselseitig. In das Licht und aus dem Licht heraus.“

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